Ist es Ihnen auch schon einmal passiert, dass Sie in einer Videokonferenz waren und niemand außer Ihnen hatte seine Kamera an? Warum das so ist? Ist der Kamera-Kult berechtigt? Oder ist es Ok sich zu verstecken?

Gründe für deaktivierte Kameras

Sich nicht zeigen zu wollen, kann natürlich verschiedene Gründe haben. Ein Meeting-Teilnehmer hat vielleicht gar keine Webcam. Der nächste hat vielleicht eine schlechte Internetverbindung (Deutschland ist eine Breitbandwüste … gleichzeitig ‘netflixen’ und ‘youtuben’ uns die anderen Familienmitglieder die schon stark limitierte Bandbreite weg). Ein anderer sitzt mitten im Wohnzimmer oder Schlafzimmer und möchte seine Privatsphäre schützen und vielleicht nicht den Wäscheständer hinter sich präsentieren. Und wieder ein anderer Teilnehmer hat verschlafen und es nicht mehr geschafft die nächtliche Zottelfrisur in den Griff zu bekommen. Früher war er immer zu spät im Büro, alle haben sich damit arrangiert, weil er trotzdem ein wertvoller und geschätzter Kollege ist.

Braucht es einen “echten” Grund?

Manchmal gibt es aber vielleicht auch gar keinen “echten” Grund, sondern die anderen Teilnehmer fühlen sich einfach nur unwohl dabei, sich vor der Kamera vor mehreren, vielleicht sogar fremden, Personen zu zeigen. Manche Kollegen zeigen sich gerne, manche waren auch vor der Corona-Pandemie schon ein wenig scheuer als andere. Die Entscheidung, ob die Kamera “an” oder “aus” ist, muss man dem Individuum überlassen. Trotzdem muss man auch im Business-Kontext eine gewisse Etiquette gegenüber den Kollegen wahren bzw. einfordern. Immerhin verdienen wir unser Geld mit dieser Zusammenarbeit. Damit wird dann auch die schlechte Internetverbindung, die mobilen Geräte unserer Familienmitglieder, das “netflixen” und “youtuben” und der gefüllte Wäscheständer bezahlt. Die produktive Zeit die wir miteinander verbringen ist maßgeblich für unseren Lebensstandard verantwortlich. Beidseitiger Respekt und Verhaltensregeln sind hier wichtig. Wir müssen akzeptieren, wenn ein Kollege “heute mal” die Kamera aus hat. Kollegen die scheuer sind, müssen aber auch akzeptieren, dass der Regelfall eine aktivierte Kamera ist, um das Maxium aus der zusammen verbrachten Zeit herauszuholen und eine gute Arbeitsqualität für alle zu erhalten.

Das “digitale Jahr” und seine Folgen

Die Pandemiesiutation hat vieles verändert. Unternehmen die schon lange erfolgreich eine digitale Kollaboration ihrer Miterabeiter etabliert haben, legen in der Regel auch im Einstellungs- und Onboarding-Prozess Wert auf einen gewissen Verhaltenskodex. Für Organisationen in der die Zusammenarbeit zuvor rein über Präsenz erfolgt ist (wo zwischenmenschlicher Kontakt unausweichlich ist) ist das natürlich anders. Hier sollte man mit längeren Anpassungsphasen, vielen Gesprächen und ggf. Konflikten miteinander rechnen (Stichwort Kulturwandel). Der Invest in diese “Annäherung aneinander” ist notwendig.

Wie war es vor der Pandemie?

Bevor 2020 zum “digitalen Jahr” wurde, hat man sich doch aber auch von Angesicht zu Angesicht getroffen. Man ist morgens aufgestanden, hat sich überlegt welche Termine man heute im Kalender hat. Man hat sich ein passendes Outfit herausgesucht. Für besonders wichtige Meetings durfte es auch mal der (Hosen-)Anzug sein und für das tägliche Teammeeting reichte auch die Jeans. Die Damen haben noch etwas Make Up aufgelegt und die Herren haben zum “wohlriechenden” After Shave gegriffen.

Was ist jetzt anders?

Jetzt stellt sich doch die Frage, wer macht das auch vor einem Termin im Home Office? Kann es sein, dass unsere Selbstwahrnehmung darunter leidet, dass uns die morgendliche Routine fehlt? Kann ich genauso selbstbewusst in einer Videokonferenz in Jogginghose sitzen wie in einem Präsenzmeeting im Anzug oder einer schönen Bluse?

Das kann natürlich nur jeder für sich selbst beantworten, aber ich behaupte mal da ist etwas Wahres dran. Letztendlich ist es doch aber so, dass wir alle im selben Boot sitzen. Geschäftspartner, die sich bisher nur im Anzug kannten “treffen” plötzlich leger im T-Shirt aufeinander, vielleicht sogar noch mit dem Baby im Arm, weil die Mutter gerade das zweite Kind in den Kindergarten bringt. Oder der Werkstudent, der sein Büro irgendwie in sein Apartment gequetscht hat und sein Bett direkt hinter sich stehen hat. Man kann sich entweder dafür entscheiden, einen Fake-Hintergrund einzustellen und bei jeder Bewegung darin zu verschwinden oder man nimmt die Welt so, wie sie derzeit einfach ist: auf den Kopf gestellt, durcheinander, verrückt. Hinter jeder Kamera sitzt nicht nur ein Geschäftspartner oder potenzieller Kunde, sondern auch ein Mensch der wahrscheinlich genauso genervt von dem Thema “Corona” ist wie wir alle und einfach versucht das Beste aus der aktuellen Situation zu machen. Wenn wir uns das klar machen, vielleicht fühlt sich dann der ein oder andere auch wieder wohler sich vor der Kamera zu zeigen.

Fazit: Gegenseiter Respekt, Anerkennung, Wertschätzung zählen. In der Interaktion mit Kollegen, Partnern und Kunden braucht es allerdings trotzdem auch klar kommunizierte Verhaltensregeln. Das lässt sich nicht über disziplinarische Anweisungen oder Arbeitsverträge regeln. Die aktivierte Kamera ist wichtig. Sollten die Umstände das trotz “Videofilter” nicht zulassen, dann muss man das akzeptieren und ggf. auch den Arbeitgeber auffordern hier Unterstützung zu leisten (Zuschuss für Hardware, Internet usw.) oder tolerant zu sein.